Das Schiff

Wir kamen noch gerade rechtzeitig zurück aufs Schiff, von unserer Gibraltar Fahrt. Für 18.00 Uhr war das Auslaufen geplant, bis 17.30 Uhr sollten alle wieder an Bord sein.  Gut 10 Minuten vor Ultimo waren wir wieder an Bord.Dann fuhren wir gemeinsam mit der AIDA Cara, die bis dahin die gleiche Route wie wir hatte, gemeinsam aus. Am Abend spielte im Theatrium das Ensemble „Goldfinger“. Aus allen James Bond Filmen die jeweilige Titelmelodie. Abgerundet wurde der Abend mit einer Sketchparade, die wirklich gut war. Wir hätten auch noch die 90-er Party auf dem Pooldeck bzw. in der angrenzenden Anytime Bar wahrnehmen können, stattdessen zogen wir die ruhigere Variante in der AIDA Bar vor. Dort lief gerade der Tanzabend.

Am Tag darauf war wieder ein Seetag, denn bis Funchal waren es 578 Seemeilen oder 1070 Kilometer die zurückgelegt werden mußten. Es war der heftigste Teil unserer Reise. Wir merkten den Unterschied zwischen Mittelmeer und Atlantik recht deutlich, denn ein „kleiner Sturm“, Zitat des Kapitäns, hatte uns fest im Griff. Der Wellengang soll 4 – 5 Meter betragen haben. An problemloses Gehen war nicht mehr zu denken. Am Tage hatte wir nur noch leichten Seegang, der mir aber reichte. Da es doch recht windig war beließen wir es bei 2 Stunden Sonnen auf Deck 14.

Danach erkundeten wir das Schiff von Deck 5 an aufwärts. Wir hätten auch mit dem dritten Deck anfangen können, denn dort befindet sich der normale Ein und Ausgang sowie wie eine kleine Seemannsbar und das Hospital. Da aber ein Deck darüber ein reines Kabinendeck ist, haben wir darauf verzichtet. Dort befinden sich übrigens 4 Barrierefreie Kabinen. Am Anfang unserer Erkundungstour ging es schon lebhafter zu. Neben der Rezeption und der Internetstation(ein echtes Minus für mich, normalerweise müßte es auf jeden Zimmer bzw. Kabine die Möglichkeit gben ins Internet zu gehen. Aber das war nur den Suiten vorbehalten, genau wie die gewohnte Minibar, die ich in jeden 3 Sterne Hotel schon habe.) Das besondere auf Deck 5 war der Kids Club. Hier werden Kinder, ab 3 Jahren, tagsüber von einer Kinder Crew betreut. Gleich zu Beginn bekommen die Kleinen auch den Zusatz „Seepferdchen“. Auf unseren Deck gab es nur das Conference Zimmer. Deck 7 und 8 konnten wir mit dem Fahrstuhl passieren, denn außer dem Waschsalon auf 7 gab es nur Kabinen.

Doch dann ging es los, denn jetzt kamen die Freizeitdecks 9 – 12. Auf der vorderen Hälfte dieses Decks waren die teureren Kabinen sowie 4 Luxus-Suiten. In der Mitte des Decks befand sich die Bühne des Theatriums sowie die unteren Zuschauerreihen. Da wir uns die ersten Tage für das Marktrestaurant entschieden hatten, kannten wir dort auch schon einiges. An der Bella Bar gingen wir fast immer vorbei, dort war auch selten was los. Da war die Sushi Bar schon gefragter. Für die Kunstgalerie hatte ich auch nichts übrig. Der AIDA Shop war für mich schon eher ein Anziehungspunkt. Leider waren die Preise so als wären wir auf der Queen Elisabeth, unverschämt hoch. Dafür war das Marktrestaurant umso besser.

An Neujahr geht es weiter

Vorausblick

Nach diesen Feuerwerk an Beiträgen ist es, hoffentlich, verständlich das ich 2010 jetzt langsam ausklingen lasse. Bevor es soweit ist möchte ich noch einen Hinweis für alle neuen Leser geben und einen kurzen Vorausblick auf 2011 wagen. Auch 2011 werde ich meinen Stil beibehalten, denn sie soll zeigen wie schön und normal ein Leben sein kann, obwohl man mal schwer krank war. Wie es sich ständig lohnt an sich zu arbeiten obwohl man noch krank ist. So trifft das zumindestens auf mich zu. Ich möchte durch meine Offenheit zeigen, das es besser ist sich nicht zu verstecken sondern sich klar und deutlich zu seinen Handicap zu bekennen.

In dieser Woche wird noch ein weiterer Teil meines Reiseberichts erscheinen und dann geht es am 3. Januar weiter. Eine Neuerung wird es geben.Ich werde wieder verstärkt Weisheiten aufschreiben. Sie werden zum größten Teil von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens stammen. Denn soviel Weisheiten kann ich nicht selber aufbringen das ich jede Woche etwas Weises von mir gebe.

Gehirnbluten

Die letzten Tage habe ich versucht mich im Internet über Gehirnbluten schlau zu machen. Anfangs gefiel mir diese Idee auch, aber je mehr ich gelesen habe, je mehr ich gesurft bin – ich wußte am Ende nichts neues. Auch über Aneurysma gab es keine neuen Erkenntnisse. Ich möchte diese Erkrankung hier nicht ausführlich beschreiben, Betroffene kennen sie und alle anderen können sie im Internet nachlesen um sich dann ein Bild von der Vielfältigkeit dieser Krankheit machen zu können. Dabei wird man sehr schnell feststellen, das sich die Erfolgsmeldungen in Grenzen halten, das die Wahrscheinlichkeit zu überleben weitaus kleiner als umgekehrt ist, das selbst bei Überlebenden die Mehrzahl geistige Probleme hat.

Darum sollten sich alle, die betroffen sind, ihres Glückes bewusst sein, und jeden Tag für die Erhaltung dieses Glücks kämpfen. Es gibt keinen Grund zum Verzweifeln, es gibt keinen Grund mit dem Schicksal zu hadern. Stattdessen sollte jeder täglich an sich arbeiten und arbeiten und wieder arbeiten. Für sich, die Familie, die Freunde und auch den Ärzten um ihnen zu beweisen das sie mit ihrer negativen Prognose nicht recht hatten.

Das dies nicht leicht ist weiß ich nur zu gut. Defizite werde ich in einigen Bereichen immer haben, aber damit kann ich ohne Probleme leben. Ich weiß z.B. das ich damals in der Schule nicht die notwendige Kraft und Konzentration hatte um eine perfekte Rechtschreibung zu erlernen. Dafür habe ich aber das Gehen wieder erlernt. Gehen ohne Krücke, nach und nach sich immer besser ausdrücken, nach und nach das Sprechen verbessern, nach und nach einen richtigen Bewegungsablauf erlernen, nach und nach die eigenen geistigen Fähigkeiten aus testen und immer wieder verbessern.

Das sind einige Dinge die mich gerade zum Jahreswechsel bewegen. Gerade weil im Augenblick von Rücksichtnahme gegenüber Behinderten und anders wirkenden Menschen gesprochen wird. In solchen Momenten denke ich an die vielen Tausend, die im letzten Jahr sich urplötzlich in einer neuen Situation wieder gefunden haben, für die sich von einen auf den anderen Tag eine neue Welt ergeben hat. Ich kann und will es nicht erwarten das jeder den ganzen Tag mit mit Gefühl, „was wäre wenn mir jetzt etwas passiert? was wäre wenn ich jetzt behindert wäre?“ Das geht nicht. Diese Gedanken sollte keiner allzu lange mit sich herumtragen.

Aber Verständnis gegenüber Betroffenen haben, das kann jeder! Nicht hinab sehen, sondern Behinderte Menschen als Gleichwertige Partner sehen!

Das ist mein Wunsch für 2011.  

24. Dezember

Teil 4

Keine dreißig Sekunden später riß er die Schlüssel für seinen betagten VW Golf vom Schlüsselbrett neben der Haustür und stürzte aus dem Haus. Der Golf war natürlich eingeschneit. Hastig fegte Tim mit dem Ärmel gerade einmal soviel Schnee herunter, daß es  ausreichen würde, um die Straße zu erahnen. Dann drückte er auf den dicken Plastikschlüsselgriff und wunderte sich, daß sein Wagen ihn nicht mit blinkenden Lichtern begrüßte. Es dauerte zwei Sekunden, bis ihm einfiel, in welchem Jahr er war. Mit fahrigen Fingern machte er sich an dem leicht eingeeisten Türschloss zu schaffen und atmete erleichtert auf, als das Schloß endlich nachgab. Dankbar sprang er in den Wagen und richtete die Augen in stummer Bitte zum Wagenhimmel, als er den Schlüssel im Zündschloss drehte. Beim dritten Versuch erwachte der Motor endlich gurgelnd zum Leben. Tim stöhnte bei dem ungesunden Sound. Er war überzeugt, daß sein Auto sich zu Weihnachten über eine neue Kurbelwelle und eine Inspektion bestimmt gefreut hätte. Statt dessen stand ihm nun mit großer Wahrscheinlichkeit ein Besuch beim Schrotthändler bevor; denn Tim hatte nicht die Absicht, den Wagen zu schonen. Mit einem Krachen legte er den ersten Gang ein und gab Gas. Wie eine alte Oma auf Rollschuhen schlitterte der betagte Golf die Auffahrt hinunter und hätte dabei beinahe den beleuchteten Schlitten nebst ängstlich blinkenden Rentieren im Vorgarten mitgenommen. Mein Gott, wie gut er seinen einhunderttausend Euro teuren Geländewagen jetzt gebraucht hätte. Dann war er endlich auf der Straße. Sonja wohnte zwar nur drei Kilometer entfernt, aber in diesem Auto und bei dem Wetter kam es ihm vor, als sei er auf dem Weg zum Mars unterwegs. Und das zu einem Zeitpunkt, wenn dieser am weitesten von der Erde entfernt ist. Ein Blick auf die schwach beleuchtete Uhr im Armaturenbrett besserte seine Stimmung auch nicht auf. Noch fünfunddreißig Minuten. In einem Anfall von Verzweiflung hieb Tim auf das Lenkrad ein und verlor prompt den Kontakt zur Straße. Wo war die elektronische Traktionskontrolle, wenn man sie brauchte? Während der Gott der lebensmüden Autofahrer Überstunden leistete, indem er Tim wieder auf die Spur brachte, fiel diesem ein weiteres Detail ein, das seinen Fahrstil zumindest bedenklich erscheinen ließ. Er hatte nie Geld für Winterreifen besessen! Das ließ hoffen. Um sich zu beruhigen und nicht doch noch tot im Graben zu landen, betätigte er den Radioknopf.„Last Christmas, I gave you my heart..“, erklang es sofort blechern aus den Billiglautsprechern auf der Kofferraumabdeckung. Tim stöhnte auf. Das fehlte ihm noch. Weihnachtslieder. Frustriert drückte er auf die nächste Stationstaste. Den Rockkanal!I´m on the highway to hell, gröhlte ACDC mit kräftigen Sound, der den Boxen das Letzte abverlangte. „Da ist was dran, Jungs!“, knurrte Tim, während er begleitet von markigen Gitarrenriffs mit halsbrecherischer Geschwindigkeit halb über den Fußgängerweg in die nächste Straße hinein schlitterte und dabei ein zu Tode erschrockenes Paar dazu veranlaßte, kopfüber in den nächsten Vorgarten zu springen.„Geht doch“, knurrte Tim, der den Wagen weiter beschleunigte. Der Weg zum Mars war schließlich weit. Nach einem weiteren Dutzend schwerwiegender Verkehrsverstöße, die zusammengezählt locker ausgereicht hätten, um den Führerschein für die nächsten hundert Jahre abzugeben, brachte er den Golf endlich vor Sonjas Zuhause zum Stehen. Leider übersah er dabei einen halb unter Schnee vergrabenen, stählernen Poller, der dem Golf den Rest gab. Aber das war Tim egal. Er hatte sein Ziel ohnehin erreicht. Als wäre eine Heerschar von hungrigen Dämonen hinter ihm her, sprang er aus dem Auto und jagte durch den Vorgarten des Mittelreihenhauses, um im nächsten Moment den Klingelknopf einer Belastungsprobe zu unterziehen. Vermutlich hätte der Hersteller vor Stolz feuchte Augen bekommen angesichts der Standhaftigkeit, mit der der Klingelknopf die wilden Klingelattacken meisterte. Die Standhaftigkeit von Sonjas Vater auf Klingelattacken zur nachtschlafender Zeit schien hingegen weniger ausgeprägt zu sein. „Bist du noch ganz gesund“, brüllte er verärgert, nachdem er die Tür aufgerissen und den Störenfried ins Auge gefaßt hatte. Die Mordlust in seinen Augen wollte so gar nicht zum Weihnachtsfest passen. „Sieh zu, daß du dich hier nie wieder blicken läßt, bevor ich mich vergesse. Wie konntest du Sonja nur so etwas antun?“, fuhr er den unglücklichen Tim an, dem beim Anblick von Sonjas tobenden Vater, der wie ein finsterer Wehrturm vor ihm aufragte, ein weiteres, vergessenes Detail seiner Vergangenheit unübersehbar ins Auge sprang. Sonjas Vater war der größte und kräftigste Mensch, den Tim in seinem Leben kennengelernt hatte und besaß Pranken, auf die selbst Conan der Barbar neidisch gewesen wäre. Tim war überzeugt davon, daß selbst potentielle Selbstmörder es abgelehnt hätten, bei Sonjas Vater zu dieser Zeit Sturm zu klingeln. So deprimiert konnte man gar nicht sein, um das zu wagen.„Frohe Weihnachten, kann ich bitte Sonja sprechen?“, brachte Tim mit kläglicher Stimme hervor.„Sonja? Du kannst froh sein, wenn du morgen nicht deinen Zahnarzt sprechen mußt“, knurrte Sonjas Vater, der sich gerade mit dem Gedanken anfreundete, Tim vorzuführen, wie sich der unschuldige Poller vor seinem Haus nach der Kollision mit Tim´s Golf fühlen mußte.„Bitte, ich habe einen riesigen Fehler gemacht.“„Vergiß es. Sie will dich nie wieder sehen.“„Ich war der größte Idiot auf diesem Planeten. Bitte, ich liebe sie! Von mir aus können Sie mich hinterher verprügeln, bis Ihnen die Fäuste schmerzen, aber lassen Sie mich mit ihr sprechen.“Sonjas Vater sah ihn nachdenklich an. Die kurze, leidenschaftliche Rede schien ihn ein wenig milder gestimmt zu haben. Vielleicht reizte es ihn aber auch nur, Tim´s Vorschlag anzunehmen. Schließlich rang er sich zu einer Antwort durch.„Du bist wirklich der größte Idiot in dieser Stadt. Aber sprechen kannst du sie trotzdem nicht. Sie ist nicht Zuhause.“Tim hatte das Gefühl, als habe ihm gerade ein Elefant einen Karatetritt in den Magen verpaßt. Ein Elefant mit schwarzem Gürtel wohlgemerkt.„Nicht Zuhause?“, ächzte er. Das konnte doch einfach nicht wahr sein! Konnte das Schicksal so grausam sein? Oder ließ sich das Schicksal nicht betrügen? „Sie ist in der Johannakirche am Klosterplatz. Dort findet die Mitternachtsmesse statt. Und nun sieh zu, daß du alles wieder ins Lot bringst“, knurrte Sonjas Vater und knallte ihm die Tür vor der Nase zu. Tim war verzweifelt. Sein zu Schrott gefahrener Wagen würde ihn keinen Meter weit mehr fahren, und die Kirche war mindestens dreißig Fußminuten entfernt. Wie sollte er dies in den ihm höchstens noch zwanzig Minuten verbleibenden Restzeit schaffen? Er mußte das Unmögliche einfach versuchen.  Tim rannte, als hinge sein Leben davon ab. Indirekt war dies ja auch zutreffend. Er hatte es vermasselt. Erst jetzt wurde ihm bewußt, wie leer sein Leben all die Jahre gewesen war. Sonja war es, die er sein Leben lang vermißt hatte, und nun hatte er den gleichen Fehler zum zweiten Mal gemacht. Konnte ein Mensch so dämlich sein? Wie hatte er es nur so weit bringen können, wenn er in der entscheidendsten Frage seines eigenen Lebens zum zweiten Mal scheiterte? Die Lunge schmerzte ihm inzwischen, und das erste Seitenstechen machte sich bemerkbar, während Tim weiter durch die wie leer gefegten Straßen hetzte und sich mit Selbstvorwürfen quälte. Wieviel Zeit verblieb ihm noch? Nicht nachdenken, sondern rennen, ermahnte er sich. In vollem Lauf flankte er über den Zaun, der den Stadtteilpark begrenzte und flog mehr als daß er rannte die abschüssige Wiese hinunter, die am anderen Ende an den Klosterplatz grenzte. Der Lauf über den vereisten Abhang war selbstmörderisch, ersparte ihm aber etliche hundert Meter Umweg über die Straßen. Schlitternd erreichte er nach einer abenteuerlichen Rutschpartie den Klosterplatz, wobei er keuchte wie eine alterschwache Dampflok. Er war nahezu am Ende seiner Kräfte. Auf der anderen Seite des Platzes ragte stolz der Turm der Johannakirche auf. Mit Bestürzung registrierte Tim, daß die Kirchturmuhr eine Minute vor Zwölf anzeigte. Die Zeit war gegen ihn, aber Tim wollte nicht aufgeben. Verloren hatte man erst, wenn man wirklich geschlagen war. Das zumindest hatte er in seinem Geschäftsleben im Laufe der Jahre gelernt. Unter Aufbietung sämtlicher verbliebener Kraftreserven sprintete er dem offenen Kirchenportal entgegen, ohne daß er die geringste Vorstellung davon hatte, was er im Inneren der Kirche tun sollte. Er hatte gerade die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als der erste Glockenschlag erklang und ihn straucheln ließ. Nur mit Mühe hielt er sich auf den Füßen und hetzte die Treppe zum Kirchenportal hinauf, während weitere Glockenschläge auf ihn einprügelten. Zugleich begann die Welt um ihn herum aus den Fugen zu geraten. Das offene Kirchenportal verschwamm vor seinen Augen und ähnelte plötzlich verdächtig seiner Wohnungstür.„Nein“, brüllte Tim, wobei er mit den Händen durch die Luft wischte, als könne er das Jahr 2010 zurückdrängen in den Strudel der Zeit. Begleitet von weiteren Glockenschlägen taumelte er wie ein angeschossener Bär in den Mittelgang des Kirchenschiffs und rief mit der Kraft der Verzweiflung so laut Sonjas Namen, daß die besinnliche Orgelmusik mit einem disharmonischen Quietschen abbrach. Hunderte von verschwommen wirkenden Gesichtern drehten sich empört zu ihm um. Aber Tim nahm sie gar nicht wahr.„Sonja, ich habe einen riesigen Fehler gemacht!“, brüllte er, während er verzweifelt versuchte, Sonja auszumachen. Erfolglos. Ein weiterer Glockenschlag ließ ihn vorwärts in Richtung Altar taumeln, wo ein verstörter Pastor seinen höchst ungewöhnlichen Auftritt mißbilligend zur Kenntnis nahm. Seinem Gesichtsausdruck nach hätte man glauben können, ihm sei gerade einer der apokalptischen Reiter erschienen, um ihm eine höchst unerfreuliche Botschaft ins Ohr zu flüstern. Doch Tim nahm auch das nicht wahr. Er hatte andere Sorgen. Der nächste Glockenschlag zwang ihn auf die Knie. Tränen der Verzweiflung rannen ihm inzwischen die Wangen hinab. Er hatte alles vermasselt. Sein Leben. Sein Glück. Seine Zukunft. Wieviele Glockenschläge blieben ihm noch, bis er aus dieser Zeit gerissen wurde? Die Antwort folgte auf dem Fuß. Aus dem Nichts, begann ein gewaltiger Sog an ihm zu zerren. Die Zeit, aus der er kam, wollte ihn definitiv zurück haben. Aber Tim wollte nicht. Mit aller Kraft stemmte er sich gegen sein Schicksal. „Sonja, ich liebe dich.“ Der Sog wurde stärker. Als sei das noch nicht genug, ging nun auch noch ein unkontrolliertes Zittern durch seinen Körper, und seine Sicht trübte sich dramatisch ein. Alles schien in einem dichten Nebel zu versinken. Dem Nebel der Zeit. Kam da nicht jemand den Gang entlang auf ihn zugeeilt? In verzweifelter Hoffnung hob er den Kopf, ohne daß er erkennen konnte, wer es war. „Sonja, bitte vergib mir, und rette mich vor meinem leeren Leben. Du bist die Einzige, die es kann“, schluchzte er mit überschlagender Stimme. Dann erklang der letzte Glockenschlag, und Tim stürzte in den Strudel der Zeit, einer Schwärze entgegen, die so finster war, wie die Aussicht auf sein restliches Leben. Die weichen Frauenhände, die seinen stürzenden Körper auffingen, spürte er nicht mehr. „Sonja!“ Schweißgebadet schreckte Tim hoch und realisierte sofort, daß er sich nicht mehr in der Kirche befand. Statt dessen lag er in seinem Bett mit  Rückenschmerzen, die eindeutig belegten, daß er auf keinen Fall mehr zwanzig Jahre alt war. Er seufzte vor tiefer Enttäuschung und sank zurück in sein Kissen. Er hatte alles nur geträumt. Das Abenteuer mit dem Weihnachtsmann, den Zeitsprung und…… Tim hielt in seinen Überlegungen inne. Irgend etwas stimmte ganz gewaltig nicht. Seine orthopädische Matrazenmaßanfertigung fühlte sich ziemlich durchgelegen an und war auch nicht mit dem hochwertigen Satin bespannt, auf dem er grundsätzlich nur schlief. Außerdem roch es verdächtig nach nassen Hund im Zimmer, und er hatte nie einen Hund besessen. Vermutlich lag es daran, daß er sich nicht in seinem Schlafzimmer befand, stellte er im nächsten Augenblick fest, als er im Dämmerlicht dieses näher in Augenschein nahm. Das Luxusdesigner-Prachtstück eines futuristischen Schlafzimmers war zu einem Versandhauskatalogmodell mutiert. Den Dachschrägen über seinem Kopf zu urteilen, befand er sich auch nicht in seinem Penthouse sondern in irgendeinem Einfamilienhaus. Mit einem mulmigen Gefühl schwang er die Beine aus dem Bett, als die Schlafzimmertür aufschwang und…. Er konnte es nicht glauben und wischte sich über die Augen.Konnte es sein?„Wach endlich auf, du Schlafmütze. Hast du etwa vergessen, daß deine Eltern immer am ersten Weihnachtstag zum Essen kommen?“„Sonja“, krächzte Tim, als hätte er einen Geist gesehen. Es war nicht die junge Sonja, aus dem Jahr 1990 aber auch nicht die verhärmte, die ihm der Weihnachtsmann vorgeführt hatte. Statt dessen erblickte Tim eine verdammt attraktive, gereifte Sonja.„Du hast mich schon mal verliebter angesehen“, beschwerte sich Sonja angesichts des fassungslosen Ausdrucks auf Tim´s Gesicht. „Ist das Kleid so schlecht?“„Entschuldige, es ist nur…… ich verstehe nicht……. wieso..“„Papa träumt noch“, erklang eine fröhliche Kinderstimme. Ein circa siebenjähriges Mädchen zwängte sich an Sonja vorbei und sprang zu Tim aufs Bett. „Wer..“, bist du, hätte er beinahe gefragt, doch Sonja rettete ihn unbewußt.„Komm, laß Papa sich fertig machen. Wenn er nicht rechtzeitig herunter kommt, bekommt er nichts von dem leckeren Essen ab“, lockte sie ihre Tochter, die schelmisch grinste. „Dann esse ich dein Essen auf“, drohte sie mit erhobenen Finger und verschwand kichernd aus dem Zimmer, während Sonja ihn einen Augenblick lang nachdenklich musterte.„Du siehst aus, als wärst du gerade vom Mars zurückgekehrt“, sagte sie  und schloß die Tür hinter sich. Tim war perplex. Hatte er den Wettlauf gegen die Zeit etwa doch noch gewonnen? Konnte das Leben so schön sein?„Wie ich sehe, hast du mein Präsent genutzt.“Tim zuckte zusammen, als er die wohlwollende Stimme des Weihnachtsmanns vernahm, der wie aus dem Nichts neben der verspiegelten Schrankwand aufgetaucht war, natürlich mit Ruphus im Gefolge. „Was ist geschehen? Wo bin ich hier?“„Du hast dich im wahrlich letzten Moment für den richtigen Weg entschieden, Tim. Sonja war in dieser Kirche, in der ihr übrigens ein Jahr später geheiratet habt. Du bist nie dem Ruf aus Silicon Valley gefolgt. Statt dessen hast du eine Familie gegründet.“„Aber was ist mit meinem alten Leben, meinem Penthouse, den Autos, meiner Firma?“„Hat es für dich nie gegeben. Deine Erinnerung daran wird in dem Moment ausgelöscht, zu dem sich unsere Wege trennen werden. Du wirst dich danach weder an dein altes Leben, noch an unsere Begegnung oder an deine Reise in die Vergangenheit erinnern. Es wird nur noch dein neues Leben und die Erinnerung daran geben.“Tim schüttelte verwirrt den Kopf. Das überstieg sein Vorstellungsvermögen.„Grüble nicht, sondern sag mir lieber, ob du mit deiner Wahl glücklich bist.“„Ja!“, kam es wie aus der Pistole geschossen zurück. „Ja, mir ist klar geworden, was wirklich im Leben zählt. Geld regiert zwar die Welt, aber nur die Liebe und Familie sind das, was dem Leben den richtigen Stellenwert gibt“, sagte er im Brustton der Überzeugung. „Wenngleich ein üppiges Bankkonto dabei sicher nicht schaden kann. Ich hoffe mal, meines ist nicht im Minus?“, fügte er mit einem hoffnungsvollen Blick auf den Weihnachtsmann hinzu.„Du wirst es herausfinden“, antwortete der Weihnachtsmann mit einem verschmitzten Lächeln. „Und nun ist es an der Zeit, auf Wiedersehen zu sagen. Es war nett dich kennengelernt zu haben und schön zu sehen, daß wir dir helfen konnten. Ruphus!“, wandte er sich an den Elfen, der daraufhin vortrat und die Hand vorstreckte. Ein in allen Farben des Regenbogens schillerndes Pulver lag auf seiner offenen Handfläche. Ehe Tim reagieren konnte, hatte der Elf ihm auch schon die ganze Ladung ins Gesicht gepustet. Sofort fingen seine Augen an zu tränen, und ein Hustenanfall schüttelte ihn. Wie durch einen Nebel hindurch sah er den Weihnachtsmann und Ruphus immer durchscheinender werden, als wären sie Gespenster. „Halt“, hustete er, „ich habe noch ein paar Fragen.“ Aber der Weihnachtsmann lächelte nur und hob den Daumen zum Zeichen, daß alles in Ordnung werden würde, während sein Bild allmählich zerfaserte.„Ihr könnt sagen, was Ihr wollt, aber seine alte Hütte sah irgendwie cooler aus“, war das Letzte, was Tim von Ruphus vernahm, dann war er wieder allein im Zimmer. Mit den Handrücken rieb er sich die Augen, um klar sehen zu können und hustete noch ein letztes Mal kräftig. Dann sah er sich verwirrt um. Wieso zum Teufel hatten seine Augen überhaupt getränt? Und warum starrte er so angestrengt zum Kleiderschrank hinüber, als erwarte er, dort etwas Besonderes zu sehen? Angestrengt durchforstete er sein Gedächtnis nach einer Erklärung. Aber er fand keine. Irgendwie spürte er zwar, daß da etwas sein mußte, doch bei dem Versuch, sich daran zu erinnern, fühlte er sich, als wolle er die Mauern von Jericho einreißen, ohne eine Posaune dabei zu haben. Schließlich gab er es auf, ging zum Fenster hinüber und zog die Vorhänge zurück, um den Wintermorgen ins Zimmer zu lassen. Vermutlich hatte er nur schlecht geträumt. Sein Blick fiel auf die Shioulette der Luxushochhäuser in der Ferne, die die ganze Stadt dominierten. Dem Hörensagen nach, sollte sich auf der Spitze des höchsten Hauses ein unerhört luxuriöses Penthouse befinden. Für einen Augenblick fragte sich Tim, was gewesen wäre, wenn er damals der Einladung ins Silicon Valley gefolgt wäre? Hätte er eine kometenhafte Karriere gemacht, die ihm das Leben in so einem Penthouse ermöglicht hätte? Vielleicht. Aber was für einen  Preis hätte er dafür zahlen müssen? Definitiv einen zu hohen! Kopfschüttelnd über den abstrusen Gedanken wandte er sich ab und fischte seinen Morgenmantel vom Stuhl. Es war an der Zeit, sich für den heutigen Tag fertig zu machen. Und er freute sich darauf. Sein Leben war gut, so, wie es war. Nein, korrigierte er sich, es war so, wie er es sich immer erträumt hatte. Wenn irgendeiner dieser superreichen, familienlosen Karriereleute ihn gefragt hätte, ob er mit ihm tauschen wolle, hätte er nur ein müdes Lächeln für ihn übrig gehabt und ihm zynisch empfohlen, vielleicht beim Weihnachtsmann mal nachzufragen, ob er etwas für ihn tun könne. Dann öffnete er die Schlafzimmertür und inhalierte genußvoll den Geruch von frisch gebratenem Fleisch und Mandelplätzchen. Der nächste Tag des Weihnachtsfestes konnte kommen. Konnte das Leben schöner sein? 

Frohe Weihnachten! 

23. Dezember

Teil 3

  Die Geister der Vergangenheit feierten in seinem Magen gerade eine ausgelassene Party. Das war das Weihnachten, an dem …… Er verdrängte die Erinnerung.„Das Ticket gilt nur heute bis 24.00 Uhr. Es gibt dir die Möglichkeit, etwas zu korrigieren, was du dir insgeheim immer gewünscht hast. Aber dies hat weitreichende Folgen. Bedenke daher gut, was du tust. Wähle deinen Urlaub und dieses Leben oder stelle dich den Geistern deiner Vergangenheit und den Fehlern, die du gemacht hast.“Tim schluckte.„Das ist nicht fair“, beschwerte er sich.„Wach auf, seit wann ist das Leben fair?“, fragte Ruphus. „Das Wort kennst du doch gar nicht!“„Frohe Weihnachten, Tim, und viel Glück, wie immer du dich auch entscheiden magst“, sagte der Weihnachtsmann mit warmer Stimme. Dann drehte er sich um und stapfte, gefolgt von Ruphus, zur Terrassentür.„Hey, wartet! Ihr könnt mich doch nicht so zurücklassen“, beklagte sich Tim. Mit großen Schritten kam er den beiden hinterher, um sie aufzuhalten.„Doch, können wir, Pappnase“, sagte Ruphus und schnippte lässig mit den Fingern, worauf Tim in die schon bekannte Starre verfiel. „Keine Sorge, das hört auf, sobald wir in der Luft sind“, beruhigte der Weihnachtsmann Tim, der hilflos mit ansehen mußte, wie sein Besuch auf die Terrasse hinaus trat und den Schlitten erklomm. Kaum war dieser im Schneetreiben verschwunden, erlangte Tim die Kontrolle über seinen Körper zurück. Frustriert schloß er die Terrassentür und ließ sich dann seufzend auf dem bequemen Sofa nieder. Auf den Wohnzimmertisch legte er sein Flugticket und das Präsent des Weihnachtsmannes nebeneinander ab.Was sollte er tun?Sich den Schatten seiner Vergangenheit stellen?Mit den Fingerspitzen glitt er über die goldene Schrift. Weihnachten 1990. Würde es überhaupt funktionieren? Mit bebenden Fingern nahm Tim das Ticket in die Hand. Vor seinem geistigen Auge erschien das Bild Sonjas. Nicht jenes, welches er in der Wohnung gesehen hatte, sondern ein fröhliches, jugendliches Gesicht aus längst vergangener Zeit, das alte Sehnsüchte in ihm weckte aber auch düstere Erinnerungen hervorrief.Die Schatten seiner Vergangenheit.Sollte er es wagen?Die goldenen Buchstaben schienen in einem eigenen Licht zu erstrahlen.  Sie flüsterten von einer Zeit, in der das Leben noch fröhlich und unkompliziert gewesen war, weit weg von Erfolgsdruck, Quartalszahlen und Krisensitzungen. Die Worte quollen wie von selbst aus Tim´s Mund.„24.12.1990“Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, erstrahlten die Buchstaben in einem gleißenden Schein, der Tim blendete. Ehe er reagieren konnte, wurde er in einen Wirbel aus goldenen Sternenstaub hineingesogen und verschwand im Strudel von Zeit und Raum. Das Gesicht im Spiegel kam Tim vage bekannt vor. Es dauerte einen Augenblick, bis er realisierte, daß ihm eine zwanzig Jahre jüngere Version seiner selbst entgegensah. Erschrocken taumelte Tim zurück. „Es hat funktioniert“, flüsterte er ehrfürchtig. Vorsichtig betastete er sein Gesicht, als fürchte er, es könne jederzeit wieder die verhaßten Falten und die Geheimratsecken aufweisen, die ihn so störten. Aber sein Gesicht veränderte sich nicht.„Ich bin wieder jung!“ Das Gefühl war unbeschreiblich und mit nichts zu vergleichen, was Tim je empfunden hatte. Begeistert sah er sich in dem engen Badezimmer um. Kein Zweifel! Er war im Haus seiner Eltern gelandet, in dem er bis zum Ende seiner Lehre aus Kostengründen weiter gelebt hatte. „Willst du da drin Wurzeln schlagen?“, ertönte die Stimme seines Vaters jenseits der Tür, begleitet von wummernden Schlägen gegen die Badezimmertür.„Ich bin fertig“, erwiderte Tim mit krächzender Stimme, dem die Beine zu versagen drohten. Das Ganze war einfach zu phantastisch. „Wurde auch Zeit“, brummte Tim´s Vater, als Tim mit reumütigen Gesicht aus dem Badezimmer kam. „Du siehst ein wenig blaß aus um die Nase“, stellte Tim´s Vater fest. „Sieh zu, daß du nach unten kommst und beim Schmücken des Weihnachtsbaums hilfst. Achja, ehe ich es vergesse, Sonja hat angerufen und wollte irgend etwas von dir. Vielleicht rufst du sie ja mal zurück.“Sonja.Tim mußte sich am Treppengeländer festhalten, um nicht hinunterzufallen. Die Schatten seiner Vergangenheit kamen unaufhörlich näher. Fahrig tastete er in den Taschen seiner dunklen Buntfaltenhose nach seinem Handy, um sie zurückzurufen. Erfolglos. „Kann ich mal dein Handy haben?“, fragte Tim und erntete ein ungläubiges Kopfschütteln seines Vaters.„Du solltest aufhören, so viel Haarspray zu inhalieren“, riet er seinem Sohn, der vor Verlegenheit rot anlief. Er hatte ganz vergessen, daß das selbstverständliche Handy im Jahr 1990 noch das absolute Luxusutensil war.„Nur n´ Scherz“, wiegelte er ab und sah zu, daß er die Treppe hinunter kam. Unten angelangt begab er sich ins Wohnzimmer hinüber, wo seine Mutter gerade auf einer Leiter balancierte, um den Weihnachtsengel an den rechten Fleck zu bringen. Bei soviel Leichtsinn konnte Tim nur den Kopf schütteln. Er räusperte sich dezent, um seine Mutter nicht zu erschrecken.„Wird Zeit, daß du antrabst“, begrüßte sie ihn. „Das Lametta und die Girlanden fehlen noch. Gib dir bitte ein wenig Mühe, und wirf es  nicht so lieblos in den Baum, wie im letzten Jahr. Ich muß mich jetzt um den Braten kümmern.“Tim nickte. Zu einer Antwort war er nicht fähig. Es war ein seltsames Gefühl, plötzlich wieder von seiner Mutter Anweisungen zu erhalten. Während er der Aufgabe methodisch nachging, kreisten seine Gedanken unablässig um Sonja. Heute war der Tag, an dem sie ihre Verlobung bekannt geben wollten. Und heute war der Tag, an dem Tim ihr das Herz gebrochen hatte. Er schluckte. Die Idee, in der Zeit zurückzureisen, erschien ihm plötzlich gar nicht mehr so verlockend. War er bereit, sein Leben aufzugeben? Für eine fragwürdige Zukunft? Was konnte er tun, um Sonja zu helfen, das Ganze besser zu verarbeiten? Gab es überhaupt ein Patentrezept für solche Situationen? Fragen über Fragen, auf die Tim beim besten Willen keine Antwort wußte.Punkt zwanzig Uhr geschah das, was Tim zugleich befürchtet und sich zugleich herbei gesehnt hatte. Die Türglocke schellte zweimal. Sein Herz raste, und seine Hände wurden feucht, als er Stimmengewirr in der Diele vernahm, das ihm nur zu vertraut vorkam.Dann kam Sonja in das Wohnzimmer, und ihr Anblick verschlug Tim den Atem. Ihr freudiges, erwartungsfrohes Lächeln schnürte ihm das Herz zusammen, als er daran dachte, was er ihr antun mußte. Er konnte sie einfach nicht heiraten. Jedenfalls nicht jetzt. Wer bekam schon ein Angebot aus Silicon Valley nach der Lehre? Das war sein Einstieg in den Karrierefahrstuhl gewesen. Er hatte nur noch den Knopf nach Oben drücken müssen, und der Fahrstuhl hatte ihn wie eine Rakete in den Computerhimmel katapultiert. Eine Familie mit Kindern hatte allerdings nicht in den Fahrstuhl gepaßt. „Frohe Weihnachten“, hauchte sie und fiel ihm um den Hals. Ihre weichen Lippen fanden die seinen, und sein Herz drohte ihm aus der Brust zu springen, während er sie mit einer Leidenschaft küßte, die er seit langem nicht mehr empfunden hatte. „Wow“, sagte sie, nachdem sie es geschafft hatte, sich aus seiner Umarmung wieder zu lösen. „Du benimmst dich, als hättest du mich eine Ewigkeit nicht gesehen.“„Wenn du wüßtest“, erwiderte Tim, der rot anlief. Hatte er sich wirklich so hinreißen lassen?  „Man verlobt sich ja auch nicht jeden Tag“, neckte Sonja ihn, worauf Tim noch roter wurde.„Sonja.., da ist etwas, das….“, begann Tim, doch er kam nicht dazu, den Satz zu beenden; denn in diesem Moment kam sein Vater die Treppe hinunter und unterbrach seinen kläglichen Erklärungsversuch.„Frohe Weihnachten“, begrüßte er Sonja, die über das ganze Gesicht strahlte. Tim stöhnte leise. Wie sollte er Sonja die Situation bloß erklären? Er konnte ihr kaum erzählen, daß der Weihnachtsmann ihn aus der Zukunft zurückgeschickt hatte, es sei denn, er wollte Weihnachten in einer gut gepolsterten Unterkunft verbringen. Mit gesenktem Kopf folgte Tim der fröhlich mit seinem Vater plaudernden Sonja ins Eßzimmer, wo ihn der Duft von Gebratenem erwartete. Der Bratenduft ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen und verdrängte kurzzeitig seine Sorgen. Erstmal etwas essen, der Rest konnte warten.Das Essen verlief harmonisch und erinnerte Tim daran, was er seit Jahren verpaßt hatte. Er konnte nichts dagegen tun, das schlechte Gewissen plagte ihn, wenn er daran dachte, daß dies das letzte Weihnachtsfest war, das er im Kreis der Familie verbracht hatte. Alle folgenden waren anderen Interessen geopfert worden, der Einladung eines Gönners, einem Projekt irgendwo in der Welt, dem Aufenthalt in einem Luxushotel mit einer seiner zahllosen Liebeleien und so weiter uns so weiter. Die Beschaulichkeit des Weihnachtsfestes war dabei auf der Strecke geblieben. Lediglich ein paar Weihnachtskarten hatte er verschickt und gelegentlich auch einmal angerufen. Den Ruf des Weihnachtsabends, der weltweit die Menschen zu ihren Familien rief, hatte er hingegen nie vernommen und diejenigen belächelt, die seine Sicht der Dinge nicht geteilt hatten. Jetzt erkannte er seinen Irrtum, und er bedauerte es zutiefst.„Du siehst aus, als hättest du etwas ausgefressen“, bemerkte seine Mutter mit scharfem Blick, worauf Tim mit rotem Kopf abwinkte.„Alles in Ordnung“, wiegelt er ab. Den fragenden Seitenblick von Sonja ignorierte er. Sie spürte intuitiv, daß etwas nicht stimmte.Nach dem Essen begaben sich alle traditionsgemäß ins Wohnzimmer hinüber. Tim mußte zugeben, daß seine etwas eigenwillige Dekoration des Weihnachtsbaums diesem einen reichlich futuristischen Anstrich verlieh. Er sah aus, als wäre Scotti beim Versuch, den Baum  zu beamen, auf halben Weg der Saft ausgegangen.„Was ist dir bloß im Kopf herum gegangen, als du das Lametta verteilst hast?, rätselte seine Mutter, die nicht fassen konnte, was Tim dem Baum angetan hatte. Doch der zog es vor, nicht zu antworten. Mit den Augen signalisierte er statt dessen Sonja, daß er sie im Flur sprechen müßte. „Was gibt’s denn. Kannst du es nicht abwarten, mit mir allein zu sein, mein zukünftiger Ehemann?“, fragte Sonja neckend, kaum daß sie den Flur betreten hatten. Tim schluckte.„Deine letzten Worte sind das Problem“, begann Tim. Dann erzählte er ihr von dem Angebot aus Amerika. Sonja traten die Tränen in die  Augen, als sie langsam erfaßte, was Tim ihr zu sagen versuchte. Die Verlobung würde ausfallen, weil Tim beabsichtigte, das Land für unbestimmte Zeit zu verlassen.„Glaubst du, mir fällt das leicht? Ich kann nicht einfach so mein Penthouse, das immense Bankkonto und den ganzen Luxus für eine fragwürdige Zukunft über Bord werfen und mich in ein Abenteuer stürzen.“„Wovon zum Teufel redest du? Ich habe das Gefühl, als wärst du heute ein völlig anderer Mensch. Ich liebe dich, und bis gestern dachte ich, du würdest mich auch lieben“, brachte sie unter Tränen hervor. „Wir sind noch jung“, erwiderte Tim, wobei er sich elend und entgegen seinen Worten so alt wie Methusalem fühlte. Aber er konnte einfach nicht über seinen Schatten springen. Sein erfolgreiches Leben trieb ihn zu dieser Entscheidung. Wer behauptete, er würde eine Entscheidung in der Vergangenheit ändern, wenn er könnte, wußte nicht, wovon er sprach. So einfach ließ sich die Vergangenheit nicht auslöschen. Nicht, wenn man die Gegenwart kannte und sie soviel Annehmlichkeiten bot, wie es bei Tim der Fall war. „Wir sollten nichts überstürzen. Was nützt uns eine Heirat, wenn wir beide kein Geld verdienen und in zwei Jahren die Scheidung einreichen? Hast du mal die Statistiken gelesen?“Sonja schluchzte jetzt herzzerreißend. „Du hast gesagt, wir sind für einander bestimmt“, erinnerte sie ihn anklagend. „Und jetzt willst du mich los werden. Wegen eines Jobs!“ Das letzte Wort schrie sie derart laut, daß im Wohnzimmer Stühle gerückt wurden. „Ich hasse dich!“ Mit bebenden Schultern wandte sie sich um, stürmte den Flur entlang und stürzte auf die Straße hinaus. Zurück blieb Tim, der nicht geglaubt hatte, daß er sich noch einmal in seinem Leben so schlecht fühlen würde.„Was ist denn hier los?“ Mit in den Hüften gestützten Händen stand seine Mutter in der Tür und sah ihn vorwurfsvoll an.„Das ist eine lange Geschichte“, seufzte Tim. Von einem Poster an der Decke starrte Donald Duck mit einem siegessicheren Lächeln auf Tim hinab, der mit verschränkten Armen auf seinem Bett lag und über alles nachdachte. Seine Eltern waren entsetzt gewesen, als er ihnen von seinen Plänen und seiner Zukunftsaussicht erzählt hatte, in der kein Platz für Familie und Kinder war. Hatte er das Richtige getan oder hatte er den gleichen Fehler ein zweites Mal gemacht? Sein Verstand sagte ihm, daß er richtig gehandelt hatte. Wer konnte ihm schon eine Garantie dafür geben, daß die Ehe mit Sonja gutgegangen wäre? Laut Statistik wurde jede zweite Ehe geschieden. Sollte er sein sorgenfreies Leben gegen das Risiko setzen, geschieden zu werden, Unterhalt zu zahlen und in einer billigen Zweizimmerwohnung mit einem betagten Kleinwagen vor der Tür zu enden? Die Statistik wies eine höchst beunruhigende Wahrscheinlichkeit für dieses Endzeitszenario auf, und mit Statisken kannte Tim sich aus.Sein Herz hingegen sagte etwas ganz anderes. Mit einem Seufzen registrierte er, daß die Tür geöffnet wurde und sein Vater den Raum betrat.„Vielleicht nimmst du den Rat eines alten Mannes an“, eröffnete er das Gespräch und setzte sich zu Tim auf das Bett. Der nickte widerstrebend. „Geld, mein Sohn, kann man auf vielerlei Art verdienen, die Frau fürs Leben zu finden, ist hingegen ein Glücksfall, den man für Geld nicht kaufen kann. Ein Mädchen wie Sonja findest du nie wieder, selbst wenn du Millionen verdienen solltest“, prognostizierte Tim´s Vater düster. Wenn du wüßtest, wie Recht du hast, dachte Tim „Was rätst du mir?“Statt einer Antwort zu geben, ging Tim´s Vater zum Bücherregal an der Stirnseite des Zimmers hinüber und zog ein quietschbuntes Fotoalbum heraus, das er zu Tim auf das Bett legte. „Vielleicht hilft dir ja ein Blick hier hinein, den richtigen Weg zu finden. Heute ist Heiligabend. Du solltest dir jetzt dringend das Richtige wünschen“, sagte er. Tim´s Blick streifte das Album, das er fast vergessen hatte. Vor ein paar Jahren war es ihm auf dem Speicher seiner Eltern unverhofft in die Hände gefallen und hatte bittersüße Erinnerungen geweckt. Zögernd streckte er die rechte Hand nach dem Album aus und schlug es auf, während sein Vater das Zimmer verließ. Eine Flut von Erinnerungen schlug über ihm zusammen, während er Seite für Seite umblätterte und die Bilder von sich und Sonja betrachtete, die während ihrer gemeinsamen Zeit entstanden waren. Egal, welches Bild von sich er auch betrachtete, er sah auf allen glücklich aus. Glücklicher als damals, als er auf Titelseite des Manager Magazins abgebildet war und auch glücklicher, als er einen Kurzreisetripp auf die Malediven mit der bildschönen Maus aus der Buchhaltung gemacht hatte, ja selbst glücklicher, als er mit seinem ersten Ferrari auf Polaroid gebannt worden war. Und der war wirklich sein Traumauto gewesen!Hatte er einen Fehler gemacht?Ein Bild sagt mehr, als tausend Worte, und diese Bilder hatten eine Menge zu erzählen. Und jedes einzelne Bild sagte: JA! JA! JA!Verdammt.Morgen würde er alles ins Lot bringen. Er würde….Siedendheiß fiel ihm ein, daß es kein Morgen geben würde. Er war nur Gast in dieser Zeit, was er für einen Augenblick vollkommen vergessen hatte. Sein Blick fiel auf die alte Digitaluhr auf dem Beistelltisch, die in rot leuchtenden Ziffern die Uhrzeit verkündete:23.15 UhrMit einem Satz sprang Tim vom Bett hinunter. Er mußte auf der Stelle zu Sonja.

22. Dezember

Teil 2

Also, wie geht’s weiter?“Statt einer Antwort zu geben, wies Ruphus mit dem Daumen nach draußen. „Bitte begeben Sie sich zum Einchecken, und halten Sie Ihre Bordkarte bereit“, antwortete der Elf mit einem Grinsen.Wenige Minuten später erhielt Tim eine ungefähre Vorstellung davon, welchen Fliehkräften Kampfpiloten bei Extremmanövern ausgesetzt sind. Sein Schreckensschrei scheuchte eine friedlich dösende Gruppe von Fledermäusen im Glockenturm auf, als Ruphus den Schlitten in einer atemberaubenden Kurve, die jeden Kampfpiloten vor Neid hätte erblassen lassen, um das hoch aufragende Bauwerk herum jagte. „Falls du auf Adrenlin aus bist, versuch´s doch mal mit dem Moutainbike die Eigernordwand hinunter“, fauchte Tim aufgebracht angesichts des selbstmörderischen Flugstils des Elfen. Seine Finger krallten sich in das Holz des Schlittens und hinterließen tiefe Furchen. Er konnte es immer noch nicht glauben, daß er sich tatsächlich auf diese Sache eingelassen hatte und begann, seine Entscheidung heftig zu bereuen. Zu seiner Überraschung erhielt er Unterstützung vom blaß gewordenen Weihnachtsmann, der sich noch gut daran erinnern konnte, was ihm widerfahren war, als der Elf im letzten Jahr über einem Zoo die Kurve ähnlich eng genommen hatte und er daraufhin vom Schlitten gefallen war. Die Eisbären im Freigehege waren alles andere als erfreut über seine überraschende Ankunft gewesen.„Schon gut, wir sind sowieso gleich da“, winkte Ruphus nach der Ermahnung des Weihnachtsmannes ab und zeigte nach unten. Tatsächlich hatten sie bereits den Randbereich der Stadt erreicht. „Kommt dir das bekannt vor?“, fragte Ruphus den noch immer verärgerten Tim. Eine Ansammlung einfacher aber gepflegter Einfamilien- und Doppelhäuser erstreckte sich unter ihnen scheinbar bis zum Horizont. Die Weihnachtsbeleuchtungen in den Gärten blinkten wie Landelichter eines Flugplatzes zu ihnen hinauf. Es dauerte einen Augenblick, bis Tim aus dieser ungewohnten Perspektive erkannte, wo sie waren. „Hier bin ich aufgewachsen“, stellte er verblüfft fest, „und ich kann mich nicht erinnern, daß ich mir gewünscht habe, in diese langweilige Gegend zurückzugelangen. Herzlichen Dank auch.“Der Weihnachtsmann schüttelte traurig den Kopf. „Du bist wirklich ein schwerer Fall. Kennst du nicht den Song von Chris Rea?“ „Ich mag keine gefühlsduseligen Weihnachtssongs!“, stellte Tim kategorisch fest.„Wär aber besser, wenn du dir mal n´ Sampler anschaffen würdest, Kumpel. Du hast nämlich wirklich n´Problem“, bekundete Ruphus. Dann schnalzte er mit der Zunge, worauf die Rentiere den Schlitten derart in den Sturzflug zogen, daß Tim die Luft weg blieb. Kurz vor dem unvermeidbar erscheinenden Aufprall auf dem steinhart gefrorenen Boden ging Ruphus in den Horizontalflug über, und statt die Bruchlandung des Jahrhunderts hinzulegen, glitt der Schlitten wie von Zauberhand federleicht über den vereisten Untergrund des örtlichen Stadtteilspielplatzes, bis er schließlich vor einem Schaukelgerüst zum Stehen kam. Taumelnd glitt Tim vom Schlitten hinunter und wankte zum nächsten Baum hinüber.„Du solltest weniger Pizza essen“, riet Ruphus nach einem Blick auf das, womit Tim gerade den Baum fütterte.„Scheint nicht sein Tag zu sein“, brummte der Weihnachtsmann, der den Flugstil des Elfen besser gewöhnt war, als der arme Tim. „Was zum Henker wollt ihr mir hier zeigen?“, fluchte Tim, während er sich mit einem Seidentaschentuch den Mund abwischte und den Elf wütend anfunkelte. Wenn Blicke töten könnten, hätte der Elf in diesem Moment das Zeitliche gesegnet. So aber grinste er nur vergnügt, was in Tim schon wieder den Ärger hochkochen ließ. Verärgert schoß er einen Blick auf den Weihnachtsmann ab, der Tim mitleidig beobachtete. „Weihnachten ist das Fest der Familie, Tim. Hast du das vergessen?“, fragte er.„Ist doch alles Blödsinn. Nur weil man einen nadelnden Baum ins Wohnzimmer schleift und sich von schnulzigen Weihnachtsliedern berieseln läßt, ist plötzlich Familyday? Wieso ausgerechnet an diesem Tag? Familie hat man schließlich das ganze Jahr!“„Und wie oft kümmerst du dich um deine Familie im Jahr?“„Ich …“ Tim zögerte. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, lautete die Antwort: Überhaupt nicht. Das war etwas, was er bisher erfolgreich verdrängt hatte. Wann hatte er seine Eltern zum letzten Mal gesehen? Am Geburtstag seiner Mutter war das Meeting in Hongkong gewesen, Ostern die Ausstellung in Paris und am Geburtstag seines Vaters…. Tim wußte es nicht mehr. Unangenehm berührt sah er zum Weihnachtsmann hinüber, der ihn vorwurfsvoll ansah. „Na schön, nicht allzu oft. Die Moralpredigt ist angekommen. Wir können weiter“, blaffte Tim, dem die Situation unangenehm war. Aber der Weihnachtsmann schüttelte den Kopf.„Noch nicht. Du solltest dir vorher noch etwas ansehen. Ruphus…“ Auffordernd sah der Weihnachtsmann zu seinem Gehilfen hinüber, der daraufhin aus der Jackentasche seiner grünen Wildlederjacke einen Behälter in der Größe einer Puderdose hervor holte. Vorsichtig öffnete er sie und entnahm ihr ein wenig des wie Sternenstaub schillernden Inhalts. „Willkommen zu Hause“, sagte er. Dann blies er das Pulver von seinen Händen, das sich sofort wie dichter Nebel ausbreitete und die drei Gefährten umhüllte. Als Tim wieder klar sehen konnte, staunte er nicht schlecht. Sie befanden sich im weitläufigen Wohnzimmer seiner Eltern. Wie machte dieser Winzling das bloß? Ob er ihm das Patent abkaufen konnte? Dann jedoch fiel sein Blick auf den prachtvoll heraus geputzten Weihnachtsbaum, dessen Anblick alle anderen Gedanken auf einen Schlag verdrängte. Die prächtige Nordmanntanne reichte bis zur Decke. Auf ihrer Spitze balancierte ein in die Jahre gekommener Engel, der über mehreren Dutzend elektrischen Weihnachtskerzen thronte. Ihr warmer Schein reflektierte sich in den unzähligen bunten Christbaumkugeln und ließ das Lametta geheimnisvoll glänzen. Erinnerungen, die Tim bisher sorgfältig in seinem Inneren verschlossen hatte, drängten nun mit Macht an die Oberfläche und ließen einen Kloß in seinem Hals entstehen. Weihnachten. Er hatte ganz vergessen, wie schön dies Fest für ihn einst gewesen war, bis zu jenem Weihnachten, an dem…. Gewaltsam verdrängte er die Erinnerung an ein Weihnachtsabend vor zwanzig Jahren, an dem er die Weichen für seine Zukunft gestellt hatte. Statt dessen richtete er seine Aufmerksamkeit auf das Eßzimmer, aus dem Geräusche verkündeten, daß jemand den Tisch deckte. Aufmunternd nickte ihm der Weihnachtsmann zu, worauf Tim mit zögernden Schritten ins Eßzimmer hinüber ging. Im Durchbruch blieb er stehen und stellte mit einem mulmigen Gefühl im Magen fest, daß seine Mutter gerade den letzten Teller auf den Tisch stellte. Den dritten Teller, wie Tim beklommen feststellte. „Mutti, es tut mir leid, aber ich kann heute nicht kommen“, sagte er mit echtem Bedauern in der Stimme, doch seine Mutter sah noch nicht einmal auf, sondern richtete mit traurigem Gesichtsausdruck die Tischdekoration zurecht.„Sie kann dich weder sehen noch hören“, erklärte der Weihnachtsmann.„Danke, jetzt fühle ich mich richtig beschissen. Die Fidschis brauche ich jetzt mehr, denn je“, knurrte Tim. In diesem Moment betrat sein Vater das Zimmer. Irritiert registrierte Tim, daß dieser merklich gealtert war. Hatte er ihn wirklich schon so lange nicht mehr gesehen?„Er wird nicht kommen“, tröstete er Tim´s Mutter. „Du weißt doch, daß er immer beschäftigt ist, selbst an Weihnachten.“ Tim´s Mutter nickte zustimmend, aber ihr Gesicht sprach eine andere Sprache, die Tim zu Herzen ging. Er hätte nicht gedacht, daß seinen Eltern seine Anwesenheit so wichtig war.„Vielleicht überlegt er es sich ja noch“, sagte seine Mutter, die sich verlegen mit dem Ärmel über die Augen wischte.„Du bist schon ein echtes Herzchen“, brummte Ruphus. „Kannst stolz auf dich sein.“„OK. Das genügt. Bringt mich nach Hause zurück. Ich werde sehen, ob ich den Flug auf Morgen verschieben kann und schneie dann eventuell hier noch rein.“„Du hast es immer noch nicht verstanden“, stellte der Weihnachtsmann betrübt fest. „Weihnachten ist nicht nur das Fest der Familie, es ist auch das Fest der Liebe.“Tim spürte, wie ihm bei diesen Worten flau im Magen wurde.„Bring uns zurück zum Schlitten“, wandte sich der Weihnachtsmann an Ruphus. „Wir müssen noch einen Besuch machen.“Tim wunderte sich nicht mehr, als er sich flugs auf dem Schlitten wiederfand, den Ruphus sofort in beeindruckendem Tempo aufsteigen ließ.„Mein Bedarf ist gedeckt. Ihr könnt mich jetzt zu Hause absetzen.“„Vorher müssen wir dir noch etwas zeigen. Ich glaube, daß es einen ganz bestimmten Grund gibt, warum du vor Weihnachten fliehst. Einen Grund, der tief vergraben in deiner Vergangenheit liegt. Habe ich Recht?“„Blödsinn“, knurrte Tim unangenehm berührt. „Ich stehe einfach nicht auf Frost und Schnee. Im Süden lebt es sich um diese Zeit angenehmer.“Der Weihnachtsmann antwortete nicht, sondern hob nur seine Augenbrauen als Zeichen, daß er der Erklärung nicht glaubte. „Dort drüben“, wandte er sich an Ruphus, der den Schlitten nun über eines der Viertel lenkte, auf das die Stadt alles andere als stolz war. Verkommene Plattenbauten ragten düster in den schneebeladenen Himmel auf. In finsteren Straßenschluchten trieben sich zweifelhafte Gestalten herum, und die wenigsten Fenster waren weihnachtlich erleuchtet. Es war eine trostlose Gegend, die Tim normalerweise meilenweit gemieden hatte.  Mit dem Geschick eines Hubschrauberpiloten landete Ruphus derweil den Schlitten auf einem der instandsetzungsbedürftigen Hochhäuser. Kaminschlote, die neben dem Schlitten lotrecht in die Höhe ragten und eine ganze Ansammlung von Mobilfunkantennen ließen die Umgebung im Schneetreiben wie die Szenerie aus einem Science Fiction Film erscheinen.„Hier war ich definitiv noch nie!“, stellte Tim fest. „Davon bin ich überzeugt“, brummte Ruphus. „Gibt so wenig Golfclubs in der Gegend.“ Dann blies er Tim erneut den schon bekannten Sternenstaub ins Gesicht. Doch diesmal landeten sie nicht in einem festlich geschmückten Wohnzimmer, sondern in einem trübe beleuchteten, schmuddeligen Flur vor einer angeschlagenen Wohnungseingangstür. Wer dort wohnte, konnte Tim nicht erkennen, denn der Weihnachtsmann verdeckte mit seiner fülligen Gestalt den Blick auf das Klingelschild.„Hinter dieser Tür liegt der Grund, weshalb du Weihnachten fürchtest“, stellte der Weihnachtsmann mit düsterer Stimme fest. „Bist du bereit, dich den Schatten deiner Vergangenheit zu stellen.“„Was für Schatten? Mein Leben ist sonnig und sorgenfrei. Was soll der Blödsinn?“„Wenn das so ist, hast du bestimmt kein Problem damit, durch diese Tür zu schreiten.“Der Weihnachtsmann machte eine einladende Handbewegung, doch Tim zögerte. Die Schatten seiner Vergangenheit. Eines mußte man dem alten Knaben lassen, er verstand es, düstere Stimmung zu verbreiten, dachte Tim verärgert. Als Weihnachtsmann war er allerdings echt eine Fehlbesetzung. Wenn er mit der Nummer bei den Kids auftaucht, brauchen die anschließend eine Therapie. „Was erwartet mich dahinter?“, fragte Tim.„Finde es heraus.“ Auf einen Wink des Weihnachtsmanns schnippte Ruphus gelangweilt mit den Fingern, worauf die Tür wie von Zauberhand aufging. „Keine Sorge, auch hier wird niemand deine Anwesenheit bemerken.“„Auf was habe ich mich da bloß eingelassen?“, stöhnte Tim, dann überschritt er zögernd die Schwelle.Der kurze Flur war sauber aber simpel möbliert. Erstaunt stellte Tim fest, daß seine italienischen Maßschuhe keinen Laut auf dem billigen Laminatboden hinterließen. Vorbei an einer beladenen Garderobe begab sich Tim zur Wohnzimmertür hinüber, die nur halb geschlossen war. Leise Weihnachtsmusik und Stimmengewirr drang in den Flur hinaus und etwas, das wie ein unterdrücktes Schluchzen klang. Beklommen betrat Tim das Wohnzimmer und kam sich vor, wie ein Spion, der die tiefsten Geheimnisse seiner Mitmenschen erforschte. Das erstaunlich gemütliche Wohnzimmer beherbergte nur eine Person. Eine Frau, mit langen dunklen Haaren, in denen sich die ersten grauen Strähnen zeigten. Sie wandte Tim den Rücken zu und sah sich einen alten Weihnachtsfilm im Fernsehen an. Gelegentlich schluchzte sie gerührt auf. Etwas an dieser Frau kam Tim verdächtig bekannt vor. Seine Beine zitterten, als er sich Schritt für Schritt der Unbekannten näherte. „Mein Gott“, hauchte Tim erschüttert, als er erkannte, wer die verhärmt wirkende, vorzeitig gealterte Frau in dem Fernsehsessel war. Sonja, seine erste große Liebe. Er war überzeugt davon gewesen, daß Sonja längst verheiratet war, viele Kinder und einen liebevollen Mann hatte. Das hier hingegen hatte er nicht erwartet.Die Schatten seiner Vergangenheit.Bedrückt erinnerte er sich an einen Weihnachtsabend vor vielen Jahren, an etwas, auf das er nicht stolz war, aber unumgänglich gewesen war für seine Karriere.Die Schatten seiner Vergangenheit.Hatten sie ihn eingeholt? Nach so langer Zeit?„Sie ist nie darüber hinweg gekommen. All ihre Beziehungen nach dir sind gescheitert. Auch sie fürchtet Weihnachten“, sagte der Weihnachtsmann, der wie ein Geist an Tim´s Seite aufgetaucht war und ihn zusammenzucken ließ.„Ist es nicht Ihre Aufgabe, Freude und Glück zu verbreiten?“, fragte Tim bissig. „Das ist Ihnen bei mir jedenfalls gründlich mißglückt. Herzlichen Dank!“„Gib nicht mir die Schuld daran, daß du dich schlecht fühlst. Jeder trifft im Leben seine eigenen Entscheidungen, und manche hinterlassen Spuren, die sich nicht tilgen lassen.“„Manche Entscheidungen sind unumgänglich, wenn man erfolgreich sein will. Ich habe jetzt genug von dieser Show und will nach Hause. Auf der Stelle.“„Wie du willst“, lenkte der Weihnachtsmann zu Tim´s Überraschung ein. Der Rückflug verlief in tiefem Schweigen. Tim grübelte vor sich hin. Der Ausflug hatte Mauern eingerissen, die er über Jahre mühsam errichtet hatte, um die Erinnerungen fernzuhalten. Nun fluteten sie über ihn hinweg wie eine Brandungswelle und lösten Emotionen aus, auf die er gerne verzichtet hätte. Zurück auf seiner Dachterrasse kehrte ein wenig von seiner alten Selbstsicherheit zurück. Stolz ließ er seinen Blick einen Augenblick über das erleuchtete, luxuriös eingerichtete Wohnzimmer schweifen, bevor er eintrat, gefolgt vom Weihnachtsmann und Ruphus. Wer konnte von sich sagen, es geschafft zu haben, so zu leben? Vielleicht sollte ich Sonja einen gut bezahlten Job anbieten, überlegte er, um sein Gewissen zu beruhigen. Ja, das war eine gute Idee.„Unsere Wege trennen sich hier“, holte der Weihnachtsmann ihn in die Gegenwart zurück. „Aber etwas habe ich noch für dich.“ Wie aufs Stichwort reichte Ruphus dem Weihnachtsmann etwas, das Tim an einen Flugschein erinnerte. Es war so groß wie sein Flugticket und leuchtete feuerrot. „Dies ist dein Ticket in die Vergangenheit“, offenbarte der Weihnachtsmann das Geheimnis des seltsamen Präsents. „Wenn du es nutzen willst, sprich aus, was auf ihm geschrieben steht.“ Irritiert nahm Tim das Ticket entgegen. 24.12.1990 prangte in goldenen Lettern vor rotem Hintergrund auf dessen Mitte. Tim spürte, wie ihm flau wurde.

21. Dezember

Die zweite Chance 

Von Klaus-Peter Behrens

Die Stadt lag unter einer weißen Puderschneedecke, auf der sich das Licht der unzähligen Weihnachtsbeleuchtungen tausendfach widerspiegelte und sie wie einen Diamanten funkeln ließ. Es war der Weihnachtsabend. Schnee rieselte in dicken Flocken wie in einem Weihnachtsmärchen sanft vom Himmel herab und ließ die Herzen der Menschen höher schlagen. Naja, vielleicht nicht aller Menschen.„Das wird einen schönen Stau geben“, murmelte Tim, der aus seinem Luxuspenthouse hoch über den Dächern der Stadt dem Schneetreiben mißmutig zusah. Mit seinen vierzig Jahren war er am Zenit seiner Karriere angekommen. Als Geschäftsführer einer renommierten Firma für modernste Computertechnologie verdiente er mehr, als er es sich je erträumt hatte, besaß diverse Immobilien, Sportwagen und ein sattes Aktienpaket. Er galt als nüchtern, pragmatisch, durchsetzungsstark und emotionslos. Seine Gegner fürchteten ihn, und seine Angestellten sahen in ihm das Musterbeispiel eines Karrieremannes, der sein Leben ausschließlich der Arbeit gewidmet hatte. Böse Zungen behaupteten, er würde sogar am Weihnachtsabend lieber den Quartalsbericht lesen, anstatt das Fest zu begehen. Sie ahnten nicht, wie Recht sie damit hatten.Mit einem Ruck zog Tim den Knoten seiner handgefertigten Seidenkrawatte zurecht und betrachtete sein Ebenbild in der Panoramascheibe, hinter der die gigantische Dachterrasse lag. Zufrieden, mit dem was er sah, nickte er. Das dunkle Haar lag perfekt gestylt, die Krawatte, die vorbildlich gebunden war, bildete einen eleganten Kontrast zu dem blütenweißen Hemd, und der zweitausend Euro teure Anzug saß so, wie man es von einem Anzug dieser Preiskategorie erwarten konnte. Sein Blick fiel auf den von einem namhaften Designer handgearbeiteten, riesigen Wohnzimmertisch. Ein paar Wirtschaftszeitschriften, der letzte Quartalsbericht ein gußeiserner Aschenbecher aus dem siebzehnten Jahrhundert, ein Glas Wasser, ein Edelhandy der neuesten Generation sowie ein Briefumschlag eines auf Luxusreisen spezialisierten Reisebüros leisteten sich auf der großen Fläche Gesellschaft. Tim ging zum Tisch hinüber, nahm den Briefumschlag hoch und steckte ihn in die Innentasche seines taubenblauen Anzugs. Die Fidschis zu Weihnachten. Was wollte man mehr? Innerlich bemitleidete er all die Menschen, die sich in diesem Moment mit Weihnachtsvorbereitungen abplagten, Geschenke verpackten, nadelnde Bäume schmückten oder gerade feststellten, daß echte Kerzen und trockene Bäume nicht gerade die ideale Kombination bildeten, quengelnde Kinder beruhigten und das Essen für eine ganze Kompanie von streitsüchtigen Familienmitgliedern vorbereiteten. Streß in höchster Potenz! Sollten sie sich doch alle der Illusion eines gelungenen Abends hingeben. Er würde dann schon längst hoch über all den Illusionisten einem entspannenden Urlaub entgegen schweben. Natürlich erster Klasse. Ein Blick auf seine sündhaft teure Armbanduhr bestätigte ihm, daß es an der Zeit war, die letzten Vorbereitungen zu treffen. Mit einem zufriedenen Grinsen auf dem Gesicht begab er sich in das Ankleidezimmer hinüber, um die letzten Sachen einzupacken. Konnte das Leben besser sein? Hoch über den Lichtern der Stadt flog derweil ein ungewöhnliches Reisegefährt durch die Nacht. Gezogen von sechs Rentieren glitt der Schlitten des Weihnachtsmannes über die mit Schnee beladenen Wolken dahin, als würde er über festen Boden fahren. Neben dem Weihnachtsmann saß mit hoch konzentriertem Gesichtsausdruck Ruphus, der Elf, die Zügel fest in der Hand.„Ich verstehe immer noch nicht, was Ihr bei diesem Mann wollt?“, grummelte Ruphus leicht verstimmt; denn der Weihnachtsmann weihte den Elfen nicht immer in all seine Pläne ein. „Die Versöhnung dieses obdachlosen Gitarrenspielers mit seiner Familie hat mir ja eingeleuchtet, aber das hier geht über meinen Horizont. Der Typ steht noch nicht einmal auf der Liste. Und wenn ihr mir die Kritik gestatten wollt, nach dem, was ich zwischenzeitlich von der Zentrale über ihn erfahren habe, hat er auch noch nie drauf gestanden. Der hat doch mit Weihnachten weniger zu tun, als der Osterhase.“„Er ist vom rechten Weg abgekommen“, brummte der Weihnachtsmann, als sei das Erklärung genug.„Und ist dabei in einem dreihundert Quadratmeter großen Penthouse gelandet! Das ist wirklich tragisch.“„Geld ist nicht immer das, was die Menschen wirklich glücklich macht. Mitunter ist es nur ein Ersatz, der sie davon ablenkt, was sie wirklich wollen.“Ruphus seufzte, während er den Schlitten durch das dichte Schneetreiben um einen hoch aufragenden Fernsehturm herum lenkte. Mit dem Weihnachtsmann zu diskutieren, machte keinen Sinn. Man konnte nur verlieren. Vor ihnen erhob sich nun die Shioulette eines Luxushochhauses, auf dessen Spitze ein Penthouse der obersten Kategorie thronte. Der Dachgarten allein war groß genug, um dort ein Tennisturnier austragen zu lassen. „Wenn du so nett wärst“, sagte der Weihnachtsmann, wobei er auf die Dachterrasse wies. „Landeerlaubnis erteilt.“Mit einem satten Knirschen glitt der Schlitten über die schneebedeckte Dachterrasse und kam vor einem japanischen Gartenteich zum Stehen. Eine anmutige Brücke überspannte den gut und gern fünfzig Quadratmeter großen Teich. Mit einem Ächzen glitt der Weihnachtsmann vom Schlitten herunter und sah sich um. Die Terrasse war von zwei Seiten von dem Penthouse umschlossen, so daß man von mehreren Zimmern auf die Terrasse gelangen konnte. Die eine Seite bildete dabei im wesentlichen eine komplett verglaste Fassadenfront. Der dahinter liegende, riesige Raum war dezent beleuchtet. Das Gesicht des Weihnachtsmann verzog sich, als er feststellte, daß keinerlei weihnachtliche Dekoration vorhanden war.„Wahrlich, ein armer Tropf“, spottete Ruphus beim Anblick des puren Luxus. „Was hat er sich denn gewünscht? Einen goldenen Fußboden?“Der Weihnachtsmann überhörte den Spott und begab sich zur Glasfassade hinüber. Wie sollte er dort hineinkommen?„Panzerglas, zehnfach Verriegelung, mit Holz verkleidete Stahlträger sowie Berührungsensoren mit Videoüberwachung“, resümierte Ruphus, der spöttisch seine Nägel betrachtete. „Ruphus!“„Schon gut.“ Gelangweilt schnippte der Elf mit den Fingern, worauf die große Wohnzimmertür wie von Zauberhand aufglitt. Leise Jazzmusik wehte auf die Terrasse hinaus.„Na dann wollen wir mal“, brummte der Weihnachtsmann.    Mit beiden Daumen zugleich drückte Tim die Riegel des edlen Lederkoffers ins Schloß. Das Ganze glich einem Ritual, das er an jedem Weihnachtsabend zelebrierte, um dieser künstlich sentimentalen Zeit zu entfliehen. Zufrieden mit sich selbst, nahm er den Koffer hoch und begab sich ins Wohnzimmer hinüber. Kaum hatte er dies betreten, blieb er jedoch abrupt stehen, als sei er gegen einen Bus gerannt. Mitten auf seinem Designersofa lümmelte sich ein Kind mit spitzen Ohren, während ein als Weihnachtsmann verkleideter, übergewichtiger Erwachsener interessiert sein vierhundert Liter fassendes Süßwasseraquarim betrachtete. Als Tim jedoch gewahr wurde, was erst auf seiner Terrasse los war, glitt ihm der Koffer aus den Fingern und landete mit einem dumpfen Poltern auf dem Travertinmarmorfußboden. Ein riesiger Schlitten mit einem Gespann aus sechs Rentieren stand vor seinem Gartenteich. Eines der Rentiere, mit einer verdächtig rote Nase, starrte neugierig in seine Richtung.„Wie…, was…“, schnappte Tim, dem vor Erstaunen und Verärgerung die Worte fehlten.„Fröhliche Weihnachten, Tim“, sagte der Weihnachtsmann.„Ich ….. rufe die Polizei“, erwiderte Tim, der seine Fassung nur mühsam zurückgewann. „Ich glaube kaum, daß Ihr Weihnachten sehr fröhlich ausfallen wird. Hausfriedensbruch ist in diesem Staat strafbar.“ Mit ausgreifenden Schritten ging er zum Tisch hinüber, den Blick fest auf das Handy gerichtet. Aber bevor er in die Reichweite des Telefons gelangen konnte, fand er sich plötzlich in seinem Sessel sitzend wieder, unfähig, ein Glied zu rühren. Selbst seine Stimme war eingefroren.„Danke, Ruphus“, sagte der Weihnachtsmann. „Schön, daß du uns deine Aufmerksamkeit schenkst“, wandte er sich an den wutschnaubenden Tim. „Es fällt uns zwar selbst schwer, das zu glauben, aber wir sind hier, um dir einen Wunsch zu erfüllen.“Tim schnaubte verächtlich, worauf der Weihnachtsmann ihn tadelnd ansah.„Manchmal weiß man nicht mehr, was man sich wirklich wünscht. Menschen wie du, die für die Karriere leben, verlieren den Blick für das Wesentliche.“ Der Weihnachtsmann machte eine Handbewegung, die den gesamten Wohnraum umfaßte. „Sie umgeben sich mit Statussymbolen und täuschen sich selbst über die innere Leere hinweg, die sie empfinden.“Tim verdrehte die Augen. „Deshalb wirst du uns heute abend begleiten; denn wir haben dir etwas Wichtiges zu zeigen.“„Hmmmm, hmm, hmmm!“ protestierte Tim energisch, der nun ernsthaft befürchtete, daß er sich von den Fidschis verabschieden konnte. Vergeblich versuchte er, sich von den unsichtbaren Fesseln zu befreien. Auf einen Wink des Weihnachtsmanns klatschte Ruphus daraufhin in die Hände, und Tim hatte zumindest seine Stimme wieder.„Ich denke nicht daran, euren Quatsch mitzumachen, es sei denn, ihr fliegt mich auf die Fidschis, und zwar erster Klasse!“, schimpfte er.„Du wirst keine Zeit verlieren und deinen Flug rechtzeitig erreichen; wenn du das dann noch willst.“Tim stöhnte. Sollte er auf diesen Quatsch wirklich antworten. Dabei fiel sein Blick auf das Aquarium. Verblüfft stellte er fest, daß die Fische wie in Wachs gegossen im Aquarium auf der Stelle standen. Selbst die Bläschen aus der Sauerstoffpumpe hatten auf dem Weg an die Oberfläche eine Pause eingelegt und bildeten nun eine glitzernde Kette. „Das gibt’s doch nicht“, entfuhr es Tim ungläubig. Verunsichert begegnete sein Blick dem von Ruphus, der über das ganze Gesicht grinste und erneut in die Hände klatschte. „Sieh mal auf deine Armbanduhr“, empfahl er Tim, der erfreut feststellte, daß er sich wieder bewegen konnte. Doch die Freude war nur von kurzer Dauer, als er dem Rat folgte. Seine Uhr im Wert eines unteren Mittelklassewagens, die laut Zertifikat lebenslang keine Sekunde verlieren sollte, war stehengeblieben. Irritiert schüttelte Tim sein Handgelenk und legte die Uhr an sein linkes Ohr. Deutlich vernahm er das leise Ticken des Schweizer Präzisionsuhrwerks. Trotzdem bewegte sich der Sekundenzeiger keinen Millimeter weiter. Allmählich wurde Tim mulmig zumute.  „Zeit ist relativ, falls du davon schon einmal gehört hast“, bemerkte Ruphus mit altkluger Stimme.„Aus welchem Universum kommt ihr?“, ächzte Tim.„Vom Nordpol“, brummte der Weihnachtsmann vergnügt. „Aber keine Sorge, dahin wollten wir dich nicht einladen. Wir wollten dir nur etwas zeigen, das dich interessieren dürfte.“„Die Aktienkurse des Dax am kommenden Weihnachten?“„Wart es einfach ab, Tim. Aber eines kann ich dir versprechen. Du wirst keine einzige Minute verlieren, sondern statt dessen eine Chance erhalten, die du nicht in Geld bezahlen kannst.“„Nicht in Geld bezahlen“, wiederholte Tim nachdenklich. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatten die beiden ihn wirklich neugierig gemacht. Zwar fiel es ihm schwer, an den Weihnachtsmann zu glauben, selbst unter Einbezug der seltsamen Begleitumstände und der Rentiere nebst Schlitten auf seiner Terrasse. Auf der anderen Seite war die Situation alles andere als normal. Der Weihnachtsmann – Tim beschloß, ihn bis zum Beweis des Gegenteils erst einmal so zu nennen – und dieser Winzling verfügten definitiv über eine beeindruckende Technik, aus der sich möglicherweise Kapital schlagen ließ. Irgendwie mußte der Schlitten ja schließlich auf seine Terrasse gekommen sein. Und dann gab es da ja auch noch die Tricks mit der Zeit. Sollte er sich auf die Sache einlassen? Was konnte er verlieren? Wenn es stimmte, was der Weihnachtsmann sagte, konnte er nur etwas gewinnen, und Gewinn klang in allen Sprachen wie Musik in seinen Ohren. Er traf eine Entscheidung.„Na schön, aber wenn ich wegen euch meinen Flieger verpasse, könnt ihr was erleben.

20.Dezember

Heute Gerade eben habe ich eine Weihnachtsgeschichte gefunden die in ihrer Länge aussergewöhnlich ist. Sie gefällt mir aber so gut, das ich sie von Dienstag bis Freitag veröffentlichen werde. Am 1. und 2. Weihnachtstag werde ich Berichte über die Kreuzfahrt veröffentlichen. So sieht das Programm der nächsten Tage aus. Es soll eine Einstimmung auf Weihnachten sein. Es ist nicht so das es mir an Ideen mangelt oder nichts passiert, aber in dieser Woche soll nicht ich der Mittelpunkt sein, sondern Weihnachten im Vordergrund stehen. 

Im Grunde genommen gefällt es mir ganz gut, wenn ich mal etwas zurücknehmen kann um anderes zu präsentieren bzw. in den Vordergrund zu stellen. In diesen Sinne wünsche ich allen viel Spass bei der fiktiven Geschichte in der man sich vielleicht etwas wiederfinden kann. Ich habe bewußt für alle Leseratten eine XXL Version als Weihnachtsgeschichte gewählt. Alle anderen müssen Geduld bewahren bzw. lernen wie wichtig es ist Geduldig zu sein.

19 Dezember

Heute gibt es die vorletzte Weihnachtsgeschichte, die letzte habe ich mir für Heiligabend aufgehoben. 

Leise rieselt der Schnee

„Es ist 19.35 Uhr. Sie hören den aktuellen Verkehrsbericht. Zwölf Kilometer Stau auf der A 3 Richtung Würzburg wegen starken Schneetreibens. Weitere Staus auf…….“ tönt die Stimme aus dem Autoradio. „Was machen wir jetzt? Sieht nicht so aus, als wenn wir heute noch nach Hause kommen. Jetzt stehen wir schon über zwei Stunden und es geht einfach nicht weiter. Man sieht aber auch die Hand nicht vor den Augen. So langsam muss ich auf die Toilette; und müde bin ich nach acht Stunden Fahrt oder besser Fahrt und Rumstehen auch“, meint Nina. Die junge Frau sagt das zu Daniela, ihrer Assistentin, die sie begleitet. Sie selbst sitzt im Rollstuhl hinter dem Lenkrad ihres Kleinbusses und gähnt.

„Ist aber auch zu blöd, eine Tagung erst am 23. Dezember durchzuführen. Wer sich so was einfallen lässt. Mensch mir knurrt der Magen. Die Kekse sind auch schon alle gegessen“ antwortet Daniela. Leise rieselt der Schnee, spielt das Radio. „Leise vielleicht, aber ganz schön heftig“ bemerkt Nina ironisch. Eine Viertelstunde später. „Da sieh, die Autos fahren an. Hoffentlich geht es jetzt weiter. Ich muss immer dringender. Bei der nächsten Abfahrt fahren wir runter und suchen uns ein rollstuhlgeeignetes Hotel zum Übernachten. Ich bin einfach zu müde, um die letzten 250 km zu fahren. Vor allem, wenn es im Schritttempo weitergeht. Dann fahren wir lieber morgen früh weiter. Wenn wir Glück haben, hat sich das Wetter bis dahin gebessert und die Straßen sind geräumt. Dann kommen wir noch rechtzeitig zum Baumschmücken nach Hause. Ich rufe schnell an und sag Sven Bescheid, dass wir heute nicht mehr kommen“ meint Nina. Sie telefoniert übers Handy mit ihrem enttäuschten Mann. In der Zwischenzeit ist die Autokolonne ein Stück vorwärts gekommen. Vorsichtig schleichen sie an liegen gebliebenen Autos vorbei, denen wohl das Benzin ausgegangen ist. Plötzlich ruft Daniela: „Da hinten kommt eine Ausfahrt. Gott sei Dank, da können wir endlich von der Autobahn runter.“ Das im Schneegestöber halb zugewehte Hinweisschild zeigt an, dass es zur nächsten Kleinstadt nur noch zwei Kilometer sind. Mit Tempo zwanzig geht es auf der glatten Straße weiter. In einer Schneewehe kommt das Auto trotz des langsamen Tempos leicht ins Rutschen.

 Endlich erscheint das Ortsschild. „Jetzt müssen wir nur noch ein barrierefreies Hotel finden.“ Daniela verrenkt sich fast den Hals bis sie eine Infotafel in einer Haltebucht entdeckt. „Da stehen ein paar Hotels drauf,“ sagt sie zu Nina. „Ich geb dir die Nummern. Dann kannst du anrufen, ob du mit deinem Elektrorollstuhl überhaupt reinkommst.“

Die nächsten zehn Minuten vergehen mehr als frustrierend. Alle angerufenen Hotels haben Stufen oder zumindest keine für Rollstuhlfahrer zugängliche Toilette und Zimmer. „Wenn ich nicht bald eine finde, passiert noch was“ meint Nina. „Das kann doch nicht wahr sein. Wir haben doch Landesbauordnungen. Und überall wird von Gleichstellung und Gleichberechtigung gesprochen. Ich frage mich, ob das Gleichstellung ist, wenn alle vier Hotels, die auf der Infotafel Werbung für sich machen, für unsereins nicht zugänglich sind.“ Nina ist wütend. Plötzlich ruft Daniela: „Auf der linken Seite ist eine Gaststätte. Ich muss mittlerweile auch. Weißt du was, ich spring rein, geh schnell zur Toilette und frage, ob die hier Zimmer haben. Stufen scheint es zumindest keine zu geben.“ Sie springt aus dem Auto und verschwindet.

 Nach einigen Minuten kommt sie wieder heraus. „Puuh, mir geht es wieder besser. – Also hier haben sie nichts, kein WC und kein Zimmer in das du reinkommst. Ich habe nachgeschaut. Die Türen sind viel zu schmal. Aber ungefähr ein Kilometer geradeaus und dann nach der großen Kreuzung rechts rein hat kürzlich ein neues Hotel eröffnet. Dort gibt es wohl rollstuhlgeeignete Zimmer.“Sie fahren weiter und finden auf Anhieb das Hotel. „Kannst du mal nachfragen, ob sie hier tatsächlich ein geeignetes Zimmer haben?“ fragt Nina ihre Assistentin. „Sonst steige ich gar nicht erst aus.“ Daniela verschwindet im Hotel. Nur einen Moment später ist sie wieder zurück. „Das kann doch nicht wahr sein. Die haben hier tatsächlich zwei Zimmer, überleg mal, zwei von 158 Zimmern, die wohl total barrierefrei sind. Leider haben sie kein Behinderten-WC im Restaurant. Und beide Zimmer sind schon belegt. Was machen wir jetzt?“ Nina überlegt: „Ich glaub wir fahren zurück auf die Autobahn und nach Hause. Was bleibt uns anderes übrig? Bei einer der nächsten Raststätten gibt’s bestimmt ein Klo. Fragt sich nur, wie lange wir bis dahin brauchen. Ich hab schon richtige Bauchschmerzen. – Und hoffentlich schlafe ich nicht vor lauter Übermüdung ein. Aber noch mehr Städte abklappern, ohne sicher zu sein, ob wir überhaupt was finden; dazu habe ich auch keinen Nerv mehr.“

 Sie lässt das Auto an und will gerade losfahren, als es an der Beifahrerseite ans Fenster klopft. Draußen steht ein Mitarbeiter des Hotels. „Ich habe gerade mitbekommen, dass Sie dringend ein Zimmer suchen. Ich wollte keine falschen Hoffnungen wecken. Darum habe ich erst bei meiner Schwester angerufen, ob sie zu Hause ist und nicht zufällig gerade Besuch hat. Sie ist nämlich auch Rollstuhlfahrerin und hat ein eigenes Haus mit Gästezimmer. Also, wenn Sie wollen, sind Sie bei ihr für diese Nacht herzlich willkommen. Morgen soll das Wetter ja wieder besser werden. Da können sie dann rechtzeitig zum Heiligen Abend weiterfahren. Ich beschreibe Ihnen gerade noch den Weg. Es sind nur ein paar hundert Meter.“

Nina und Daniela bedanken sich. Zwischenzeitlich schneit es nicht mehr so stark und schnell ist das Haus gefunden. Sie werden schon erwartet. Im hell erleuchteten Eingang sitzt eine Frau im Rollstuhl und ruft: „Kommen Sie nur herein. Hier ist es warm und etwas zu Essen mache ich Ihnen auch gleich.“ Erleichtert steigen die beiden müden Frauen aus dem Auto und gehen bzw. fahren in das gemütliche Haus, in dem schon die Betten für sie bezogen werden. 

 „Es ist 9.07 Uhr. Nach den vielen Staus der vergangenen Nacht liegen uns heute Morgen keine Meldungen über Verkehrstörungen vor. Wir wünschen ihnen eine gute Fahrt“ lautet die Stimme aus dem Radio. „Auch ich wünsche Ihnen eine gute Heimfahrt und fröhliche Weihnachten“ verabschiedet sich die Gastgeberin von ihren dankbaren Übernachtungsgästen. „Wenn Sie mal in unsere Gegend kommen, müssen Sie uns auf jeden Fall besuchen. Sie sind uns jederzeit herzlich willkommen. Und vielen, vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft“ bedanken sich Nina und Daniela zum Abschied. bevor es Richtung Heimat geht. Elke Bartz (†)